Am 18. Juli 2022 wurde ein Konzert der Band „Lauwarm“ in Bern abgebrochen, weil sich einige Zuschauer (die Band war für einen anderen Act eingesprungen) „unwohl fühlten“ (Der Standard, 27. Juli 2022, 10:32). Was war geschehen? Wurden Frauen verunglimpft? Gab es rassistische Ausfälligkeiten? Wurde zur Gewalt aufgerufen? Rechtsextremes Gedankengut verbreitet? Nein, der Stein des Anstoßes war, dass eine Band, die aus Weißen besteht, Reggae – eine jamaikanische Musikrichtung – gespielt hat und zwei der Bandmitglieder Dreadlocks trugen.
Das erinnert daran, dass vor nicht allzu langer Zeit auf Social Media verstärkt eine Entscheidung von „Fridays for Future“ (FfF, Gruppe Hannover) diskutiert wurde, eine Musikerin auszuladen, weil sie als Weiße Dreadlocks trägt.
Nun ist es durchaus legitim, dass eine Bewegung, eine Partei, eine Institution oder eine wie auch immer verfasste Gruppe von Menschen selbst entscheidet, wen sie als jemanden, der/die ihre Sache vertritt, zulässt oder nicht. Also ist diese Vorgehensweise von FfF nicht wirklich Diskussionsgegenstand für Leute außerhalb dieser Bewegung. Das gilt insbesondere für diejenigen, die sowieso gegen die Anliegen dieser Gruppe sind (die sich höchstens in ihrer Ablehnung von FfF dadurch bestätigt fühlen). Für Sympathisant*innen sieht das natürlich anders aus, denn diese können aufgrund dieser Entscheidung ihre Sympathie für FfF in Frage stellen. Wenn sie das aber tun, sind sie in dem Dilemma, ob sie sich damit nicht denjenigen anschließen, die prinzipiell gegen das Anliegen von FfF sind.
Sieht man sich die Begründung an, dann wird es noch komplexer. FfF (Hannover) zufolge darf ein*e Weiße*r keine Dreadlocks tragen, weil diese in den USA ein Widerstandssymbol schwarzer Menschen geworden seien: „Wenn eine weiße Person also Dreadlocks trägt, dann handelt es sich um kulturelle Aneignung, da wir als weiße Menschen uns aufgrund unserer Privilegien nicht mit der Geschichte oder dem kollektiven Trauma der Unterdrückung auseinandersetzen müssen“ (
https://www.vienna.at/absage-wegen-dreadlocks-fridays-for-future-laedt-musikerin-von-demo-aus/7342932;
letzter Zugriff: 28.07.2022, 17:35.)
Ist man also, wenn man diesen Aussagen nicht folgt, eine Rassist*in, jemand, der/die das „kollektive Trauma der Unterdrückung“ wegschiebt, leugnet, sich damit nicht auseinandersetzen will? Oder ist man, was man durchaus aus der Formulierung herauslesen könnte, jemand, der/die letzteres gar nicht kann, als weiße Person? Bezeichnet wird das Ganze („Weiße trägt Dreadlocks“) als „cultural appropriation“ (
Siehe https://rat-blog.at/2021/07/28/fakelore-and-cultural-appropriation-new-age-and-folk-religion/#more-1678
letzter Zugriff 28.07.2022, 17:38). Kulturelle Aneignung - was so viel heißt, wie ein Element aus einem kulturellen Kontext zu entnehmen und in einen anderen einzufügen, und zwar so, dass damit dem ursprünglichen kulturellen Feld Gewalt angetan wird. Man kann davon ausgehen, dass die Besucher des Konzertes in Bern ihr Unwohlsein auf ähnliche Weise begründet haben werden.
Wir finden uns damit (abseits der eher peripheren Geschichte: regionale Gruppe von FfF lädt Fr. Maltzahn aus) mitten in der Diskussion um die sogenannte „Woke-Kultur“, einer Bewegung, der es darum geht, uns für die allenthalben anzutreffenden, uns meistens nicht bewussten, rassistischen Strukturen in unserer gemeinsamen Welt zu sensibilisieren. Ein anerkennenswertes Anliegen, wie jede*r vernünftige Mensch zugeben wird. Womit wäre uns in einer multikulturellen Gesellschaft im Umgang mit einander mehr geholfen, als auf unsere mehr oder minder unbewussten Voreingenommenheiten in Hinsicht auf andere Kulturen zu reflektieren? Das wird doch ein wichtiger Schritt in Richtung gegenseitigen Verständnisses sein. Wenn man nun als jemand, der*die prinzipiell einen antirassistischen Standpunkt einnimmt, diese Begründung nicht nachvollziehen kann – mit dem auf Social Media oft geäußerten Argument, was man dann alles nicht dürfte, von dem wir annehmen, dass es selbstverständlich ist (bis hin zum Verzehr von italienischer Pizza usw.) – dann ist man in demselben Dilemma wie die FfF-Unterstützer*innen, nämlich ob man sich damit nicht mit den Argumenten von offenen Rassist*innen gemein macht.
Um dieses Dilemma zu lösen, schauen wir uns die Begründung näher an.
Zunächst ist zu fragen, inwiefern die Form der „kulturellen Aneignung“, die Fr. Maltzahn und der Gruppe Lauwarm unterstellt wird, als rassistisch zu bezeichnen ist. Die Frage lässt sich in zwei Teile aufsplitten: a) handelt es sich um eine Form der „kulturellen Aneignung“ und b) ist diese rassistisch? Wir sind in einer multikulturellen Welt in vielfacher Form von kulturellen Transformationsprozessen umgeben, die Elemente aus einem kulturellen Kontext oder Feld in eine andere kulturelle Matrix eintragen. Man denke etwa an Tattoos (polynesischen Ursprungs, aber ähnliche Formen der Körpergestaltung gab es in vielen Kulturen), den „Neoschamanismus“, die Übernahme katholischer Ikonographie für afrikanische Gottheiten in der kubanischen Santería, im haitianischen Vodou oder im brasilianischen Candomblé und weitere vielfältige Akkulturationsprozesse. Das geht in verschiedene Richtungen, also zwischen den jeweiligen Ausgangskulturen und nicht einlinig. Ohne den von afrikanisch stämmigen US-Amerikaner*innen „erfundenen“ Blues gäbe es viele der heute weltweit beliebten, und von Menschen unterschiedlichster Ethnizität gespielter Musikstile nicht. Ist es rassistische kulturelle Aneignung, wenn die Rolling Stones auf ihrem Album „Let it Bleed“ (1969) „Love in Vain“ von Robert Johnson interpretieren, um nur ein Beispiel zu nennen?
Was bedeutet „rassistisch“ in diesem Zusammenhang?
Wie uns FfF aufklärt, ist der Punkt, dass man als Weiße*r sich nicht mit der Geschichte der Unterdrückung auseinandersetzen muss. Das meint, man ist davon nicht betroffen. Die Logik ist also: ich kann kein Symbol des Widerstandes einer unterdrückten Ethnie oder Gruppe übernehmen, wenn ich dieser Gruppe nicht angehöre. Das ist einleuchtend, genauso wie, dass die ironische Verwendung eines abfälligen Wortes einer damit diskriminierten Gruppe von Menschen nur Mitgliedern der diskriminierten Gruppe erlaubt ist: Das N-Wort kann von Afroamerikaner*innen – wie etwa in der Hip-Hop-Szene üblich, z.B. im Text von „Claimin I’m a Criminal“ von Brand Nubian, oder in der Selbstbezeichnung von NWA (Ni*ers with Attitude) – als ironische Selbstzuschreibung gebraucht werden, nicht aber als Fremdzuschreibung, auch wenn sie augenzwinkernd vorgetragen wird. Etwas anderes ist es, zu zitieren (das ist dann Metasprache) – meiner Erfahrung nach lassen aber Mitglieder der Woke-Generation (schwarze wie weiße) die Unterscheidung Meta- und Objektsprache nicht zu.
Oft reicht das Reizwort, egal wie der Kontext aussieht.
Jedenfalls ist die Argumentation der Woke-Kultur soweit klar: es handelt sich nicht um einen beliebigen Transfer eines kulturell codierten Symbols in einen anderen kulturellen Kontext. Vielmehr bilden asymmetrische Machtverhältnisse den Hintergrund. Weiters scheint mir in der Argumentation zu liegen, dass der kulturelle Kontext, aus dem das Symbol – Dreadlocks, resp. Reggae als kultureller Stil – stammt, von Weißen nicht adäquat in eigene Erfahrungen, in eigenes Weltverhältnis übersetzt werden kann.
Anders ausgedrückt: vorgeworfen wird Fr. Maltzahn und der Band Lauwarm, dass man sich gedankenlos mit einem Symbol des Widerstandes einer unterdrückten Gruppe schmückt, der man weder angehört noch angehören kann. Darin wird auch vorausgesetzt, dass der Symbolgehalt des solcherart annektierten Zeichens nicht adäquat in die eigene Welterfahrung übersetzt werden kann.
Denn eine weiße Person kann, so das Argument, nie die Erfahrung rassistischer Diskriminierung nachvollziehen, aufgrund ihres privilegierten Status.
Insofern ist die Verwendung dieses Symbols durch eine*n Weiße*n bestenfalls ein ungeschickter Versuch, Empathie zu bekunden, doch eigentlich eine Karikatur, die die Unrechtserfahrung der unterdrückten Gruppe, der das kulturelle Symbol eigentlich gehört, banalisiert bis verspottet (man beachte, dass das etwas anders ist, als wenn weiße Dreadlocksträger*innen offen rassistisch sind). Damit verbleibt man, der Logik zufolge, nicht nur innerhalb (latenter) rassistischer Strukturen, sondern verfestigt diese noch. Soweit meine ich, die Argumentation der eher reflektierten Vertreter*innen der Woke-Bewegung zu verstehen.
Das bringt uns zu der Frage, ob es denn stimmt, dass im Falle der von Weißen getragenen Dreadlocks resp. des von Weißen gespielten Reggaes ein Transfer von der schwarzen Widerstandskultur in die weiße privilegierte Kultur stattgefunden hat.
Die Antwort ist: Nicht unbedingt.
Warum? Weil die Dreadlocks weder den afrikanisch stämmigen Bürger*innen der Amerikas gehören noch den weißen Europäer*innen, und weil weder Dreadlocks noch Reggae den Rastafaris gehören, denen man Dreadlocks als „Zeichen des Widerstandes“ zuschreibt, von denen auch der Ausdruck „Dreadlocks“ für diese Haartracht stammt. Die Rastafari Bewegung ist in Jamaika im Zuge des sog. „Äthiopianismus“ entstanden, grob gesagt, der Ansicht, dass die afrikanisch stämmige Bevölkerung der Amerikas in Afrika repatriiert werden sollte – eine panafrikanische Idee, die ins 19. Jahrhundert, etwa zu Edward Wilmot Blyden (1832-1912) zurückgeht und in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts insbesondere von dem geborenen Jamaikaner Marcus Garvey (1887-1940) propagiert wurde. Äthiopien (neben Liberia, das aber quasi vollständig von den USA abhängig war) war damals das einzige Land am afrikanischen Kontinent, das nicht Kolonialgebiet war, und Äthiopien war aufgrund seiner Erwähnungen in der Bibel – die Geschichte der Königin von Saba (1 Kön., 10, 1-13; 2 Chr. 9, 1-12; Mt. 12,42) und der in Apg. 8, 26-40 erwähnte Kämmerer der Königin von Äthiopien – für die einfache afrikanisch stämmige jamaikanische Bevölkerung, die keine klare Vorstellung vom afrikanischen Kontinent mehr hatte und außer der Bibel kaum ein Buch kannte, zu einem Begriff für „Afrika“ geworden. Als Haile Selassie zum Kaiser von Äthiopien gekrönt wurde, sah man in ihm eine Inkarnation Gottes (vom biblischen „Jahwe“ abgeleitet: „Jah“), der diese Repatriierung bewerkstelligen würde (das alles hier kurz und vereinfachend gesagt). Sein Titel Ras Tafari („ehrwürdiger Prinz“) gab der Bewegung ihren Namen. Der Rastafarianismus gründet sich auf einer Interpretation der Bibel, die die Situation der Israeliten in Ägypten und im babylonischen Exil mit derjenigen der aus Afrika verbrachten Sklaven und deren Abkömmlingen gleichsetzt, in einer Lesart der Bibel, die man als „Dispensationalismus“ einordnen kann, nach der die biblischen Geschichten zu verschiedenen Zeiten auf die jeweiligen historischen Umstände bezogen werden können. Daraus hat sich dann im Laufe der Zeit eine eigene Kultur entwickelt, die übrigens, was etwa das Geschlechterverhältnis oder LGBTQ betrifft, so gar nicht den Werten der Regenbogen-Paraden-Generation entspricht.
Hatten die Rastas anfänglich ihren Nonkonformismus mit „Babylon“ (der Unrechtswelt der Weißen) durch langes Haar und lange Bärte ausgedrückt, kam es in den 1940er Jahren unter jugendlichen Rastas (Black Youth Movement) zu einer Radikalisierung, insofern auch das Kämmen der Haare abgelehnt wurde. Bei Kraushaar entstehen die sogenannten Dreadlocks (die Bezeichnung meint, dass damit den weißen Unterdrückern Furcht eingeflößt wird) automatisch, wenn man sich nicht kämmt – Menschen mit glattem Haar müssen zusätzliche Maßnahmen ergreifen. Es gab für eine gewisse Zeit zwei Parteiungen innerhalb der Bewegung in Bezug auf die Haartracht: die „Combsomes“ (also diejenigen, sie sich kämmten) und die Träger der Dreadlocks. Nun haben die Rastas, die Dreadlocks tragen, diese Haartracht nicht erfunden, wie schon daraus hervorgeht, dass sie bei Menschen, die stark gewelltes oder gekraustes Haar haben, ohne Kämmen natürlicherweise entstehen. Es gibt verschiedene Theorien, woher die jungen Rastas ihre Inspiration bezogen haben, man geht davon aus, dass es Bilder in Jamaikanischen Zeitungen waren: entweder von Angehörigen afrikanischer Völker mit einer ähnlichen traditionellen Haartracht, von Mau-Mau Kämpfern (Mitglieder einer antikolonialistischen Befreiungstruppe in Kenya, hauptsächlich aus dem Volk der Kikuyu), oder von Hindu-Asketen. Fest steht jedenfalls, dass es hier eine Übernahme einer Haartracht gab, die in anderen Kontexten jeweils anders kulturell kodiert ist. Für die Rastas ist es die natürliche afrikanische Haartracht, im Gegensatz zu den künstlichen europäischen Haarstilen (die ja von afrikanisch stämmigen Amerikaner*innen z.T. auch „imitiert“ werden). Dabei geht natürlich die Vielfalt der im subsaharischen Afrika bei verschiedenen Völkern zu findenden Haartrachten unter; im Symbolwert ähnelt das aber etwa dem „Afro“ der Bürgerrechtsbewegung in den USA der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. Das ist der Punkt, auf den die Gegner*innen der Adaption dieser Haartracht durch Weiße hinweisen: es handelt sich, ihnen zufolge, um einen Stil der Körpergestaltung, der einen Protest gegen eine Welt der Unterdrücker, ein radikales Anderssein und eine Ablehnung der Werte der „westlichen Gesellschaft“ ausdrückt.
Bei den Rastas kommt allerdings noch eine religiöse Bedeutung der Dreadlocks hinzu: Sie werden manchmal als „The Covenant“ (der Bund) bezeichnet und als spirituell mächtig angesehen. Rastafari sagen oft, dass jemand sich keine Dreadlocks wachsen lassen sollte, bevor er oder sie eine starke Grundlage im Glauben gefunden hat. Sie gelten auch als Werkzeug für die Kommunikation mit Jah. Deshalb sollen sie, der Nyahbinghi-Orthodoxie zufolge, bedeckt bleiben, während sich ein Rasta in Babylon aufhält. Brothers sollen ihre Kappen entfernen, wenn sie beten, während Sistas im Allgemeinen ihre Köpfe in der Öffentlichkeit bedeckt halten sollen. Begründet wird das Tragen der Dreadlocks zumeist auch biblisch, mit einem Verweis auf Numeri 6,5 (ein Teil der Bestimmungen des Nasiräats, Rastas verstehen sich offensichtlich als auf Dauer Gott geweiht) und Richter 16, 17. Freilich ist nicht jede*r Schwarze, der*die Rastalocken trägt, ein*e Anhänger*in des Rastafarianismus, man denke an Musiker, Fußball- oder Tennisspieler*innen, oder einfach Männer und Frauen aus dem subsaharischen Afrika – oder die auf weiße Touristinnen spezialisierten jungen Männer in den Urlaubsdestinationen der Karibik (in Jamaica nennt man diese Männer „Rent-a-Dreads“ oder „Rentas“; vgl. King, 129).
Außerdem sind die Rastas eine eher kleine religiöse Gruppe (hauptsächlich in Jamaica, Ghana, Äthiopien, Brasilien und Neuseeland), die, wären sie nicht mit der Reggae-Musik verbunden, wahrscheinlich nur Anthropolog*innen und Religionswissenschaftler*innen bekannt wären, die sich mit der Karibik beschäftigen, wenn auch vielleicht die – nicht von allen Gruppierungen, vertretene* – Ansicht, dass Haile Selassie eine Inkarnation Gottes darstellt, auch so für Aufsehen gesorgt hätte. Das bedeutet, dass es nun mal Fakt ist, dass Dreadlocks auch von afrikanisch stämmigen Menschen in verschiedenen Kontexten getragen werden, und keineswegs die einsinnige Bedeutung haben, die in den Protesten gegen die Übernahme dieser Haartracht durch Weiße unterstellt wird. Es stellt sich dann natürlich auch die Frage, wer als „schwarz“ genug gilt, um Rastalocken tragen zu dürfen. Man wird an James Weldon Johnson’s Roman The Biography of an Ex-Coloured Man (1912) erinnert , der beschreibt, wie im rassistischen Denken (die Idee menschlicher „Rassen“ ist ja durch DNA-Analysen längst wiederlegt) nur eine kleine Beimengung von schwarzen Vorfahren den Menschen zu einem „Negroe“ – wie man damals auch als Selbstbeschreibung sagte – oder, wie man heute auch nicht viel besser sagt, POC, macht. Es liegt dieser Abgrenzung somit auch ein Stück rassistisches Denken zugrunde.
Dazu kommt, dass, semiotisch betrachtet, die Bedeutung eines Symbols immer auf eine jeweilige Gruppe bezogen ist. Mit Charles S. Peirce gesprochen: auf die Interpretantengemeinschaft, mit Verweis auf Ernst Cassirer und Susanne Langer, oder Roland Barthes auf die von der Gruppe geteilte Konnotation.** Anthropolog*innen und Religionswissenschaftler*innen haben gelernt, dass die Assoziation von katholischen Heiligengestalten mit afrikanischen Gottheiten in afroamerikanischen Religionen wie der Santería, dem Candomblé oder der Umbanda keine „inhaltliche“ Beziehung darstellt, sondern einen Einbezug von Elementen aus dem Katholizismus im Rahmen einer afrikanischen kulturellen Matrix, genauso wie die Adaptierung von Praktiken des europäischen Spiritismus in der Santería und der Umbanda. Es handelt sich um einen Vorgang der Akkulturation, der mit der semiotischen Theorie unterschiedlicher Konnotationen von Symbolen in unterschiedlichen kulturellen Kontexten erklärt werden kann.*** Gerade diese Adaptierungen machen eine multikulturelle Gesellschaft aus.
Das gilt nun nicht nur für die Haartracht, sondern auch für Musikstile. Die Welt verdankt Afroamerikaner*innen eine Vielfalt von Musikstilen, die in weiteren Adaptionen weitere Musikstile hervorgebracht haben. Früher fragte man: “Can the white man play the Blues?“ Heute dekrediert man: “The white man must not play the Reggae”. Das mit dem Blues ist natürlich schon so weit gediehen, dass man hier keine Schranken mehr errichten wird können. Aber man könnte sich mal überlegen, wie der Reggae eigentlich entstanden ist. Die Wurzeln des Reggae liegen im Ska und im Rock Steady, jamaikanischen Musikformen, die auf einem Prozess der „Kreolisierung“ aufbauen:
„Ska music blended a variety of musical styles […] American musical forms such as jazz and big band music inspired ska’s horn section and R&B influenced the music’s guitar style” (King, 19).
Diese hybride Musikform hat Eingang in das Rastafaritum gefunden, das damals aber insgesamt apolitisch gewesen ist, mit dem hauptsächlichen Ziel der Repatriierung der afrikanisch stämmigen Menschen in der „Neuen Welt“ am afrikanischen Kontinent. Das war zu der Zeit, als eine Politisierung der Rastas stattfand, eine Bewegung unter Mitgliedern der sozialen Unterschicht, die in den 60er Jahren attraktiv für junge Schwarze aus der Mittelschicht wurde. Diese Politisierung geschah unter Einfluss US-amerikanischer Bürgerrechtsbewegungen und der 1966 von Haile Selassie ausgegebenen Maxime, dass die Rastas vor der Repatriierung ihre schwarzen Mitbürger in dem seit 1962 vom britischen Empire unabhängigen Jamaica befreien sollten. Waren die Texte im Ska schon politisch und sozialkritisch, so stellte die nächste in Jamaica entstandene Musikform, der Rock Steady, der wiederum vom US-amerikanischen Soul beeinflusst wurde, den Rebellen („rude boy“) als Role Model vor. Reggae, dessen Entstehungsdatum mit 1968 angegeben wird, ist eine langsamere Spielart des Rock-Steady, auch stärker an afrikanischer Musik orientiert. Viele Reggae Musiker der damaligen Zeit waren Rastas, aber nicht alle (vor allem im Dancehall-Reggae); nicht alle Rastas stehen der Reggae-Musik positiv gegenüber. Die Identifizierung des Rastafarianismus mit dem Reggae insgesamt ist somit nicht zu halten, auch vom Aspekt seiner internationalen Verbreitung her. Die meisten Reggae-Musiker hätten wohl von ihrer Musik nicht leben können, wenn das Publikum auf Rastas beschränkt gewesen wäre. Es ist ein Musikstil, der in seiner Geschichte mit bestimmten religiösen, politischen und sozialen Anliegen verbunden gewesen ist, der aber auch in anderen – etwa rein kommerziellen – Kontexten gespielt wird und wiederum auf neue Musikformen (Dub, Dancehall) eingewirkt hat, so wie Reggae selbst nicht vom Himmel gefallen ist, sondern auf bereits vorhandenen musikalischen Stilen aufbaut.
Wie bei den Rastalocken sehen wir einen Prozess der Akkulturation, des kulturellen Austausches, der Hybridisierung. Der Ruf nach „Reinheit“, der in der woken Kritik an der Adaptierung von Elementen des Rastatums und der Reggae-Musik in einem „weißen“ Kontext steckt, steht in einem eigenartigen Gegensatz zur Hybridität, denen sich beide verdanken (man denke etwa auch an die Berufung auf die Bibel durch Rastas). Mit Blick auf die Bürgerrechtsbewegung der African Americans in den USA steht diese Kritik in der Tradition des Separatismus (etwa in gewissen Strömungen in der Nation of Islam), der in seiner Extremform in gewissen religio-politischen Ausprägungen den weißen Rassismus umdreht (Hödl 2016) und der die Proponenten einer integrationistischen Sichtweise (historisch etwa Martin Luther King) bekämpft. Man kann sich fragen, ob mit einer solchen Positionierung (im Rahmen der „cancel culture“, die ich hier jetzt nicht näher besprechen kann) den berechtigten Anliegen der Woke-Bewegung gedient wird. Mein persönlicher Eindruck ist, dass das Gegenteil der Fall ist, und zwar deshalb, weil mit dem „Besitzanspruch“ auf kulturelle Formen gerade ein Kriterium der Bewertung eingeführt wird, das „schwarze“ von „weißen“ Menschen trennt. Und das ist in meinen Augen rassistisch, weil das Argument nur in einer Welt getrennter Rassen funktioniert.
Literatur
Barnett, Michael, The Rastafari Movement. A North American and Caribbean Perspective. London-New York: Routledge 2018.
Barnett, Michael (ed.), Rastafari in the New Millenium. Syracuse, NY: Syracuse University Press 2012.
Barrett,
Leonard E., The Rastafarians. Boston:
Beacon Press 1997.
Chevannes,
Barry, Rastafari. Roots and Ideology. New York: Syracuse University Press 1994.
Edmonds,
Ennis B., Rastafari. A Very Short Introduction. Oxford: Oxford University Press
2012
King,
Stephen A., Reggae, Rastafari, and the Rhetoric of Social Control. Jackson:
University Press of Mississippi 2002.
* Die
1968 in Jamaika gegründete Gruppe der Twelve
Tribes of Israel halten Haile Selassie nicht für den lebendigen Gott,
sondern eher für eine Person von hohen spirituellen Qualitäten.
** Vgl.
etwa verschiedene Beiträge in: Winfried Nöth, Handbuch der Semiotik.
Stuttgart-Weimar: Metzler
²2000.
*** Hans
Gerald Hödl, Òrìşà, Exodus und Babylon. Inkulturation 'von unten' in
afroamerikanischen Religionen?" In: Rupert Klieber und Martin Stowasser,
Hg. INKULTURATION. Historische Beispiele und theologische Reflexionen zur
Flexibilität und Widerständigkeit des Christlichen, Wien: LIT 2006,
108–128.