May 21, 2016

Ein Wesen, das mit leeren Händen dasteht, ist nicht Gott

Philip K. Dicks „Die drei Stigmata des Palmer Eldritch“

Der Präkog Barney Mayerson arbeitet für PP-Layouts. Leo Buleros Firma stellt die Puppen Perky Pat & Walt (= Ken & Barbie für Erwachsene) und deren Miniaturwelten her. Im Kosmos von „Die drei Stigmata des Palmer Eldritch“ ist es ein Privileg, auf der von unerträglicher Hitze betroffenen Erde zu leben. Ist man hier zwar ohne Kühlvorrichtungen dem Tod ausgeliefert, ist dieses Dasein doch der Zwangsrekrutierung in eine der Siedlungen auf anderen Planeten des Sonnensystems vorzuziehen, wo die UN ihr Kolonisationsprogamm durchführt. Mayerson hat seinen Einberufungsbefehl erhalten, was das Ende seines relativ luxuriösen Lebens auf Terra bedeutet. 

Davor soll ihn sein elektronischer Psychiater bewahren, der ihn psychisch soweit zu destabilisieren hat, dass er den Test der Musterungsbehörde nicht besteht. Die Lebenskrise, in der ihn der Leser finden, könnte auf Dr. Smile, den er in einem Koffer bei sich trägt, zurückgehen: Während Mayerson noch daran arbeitet, seinen Chef unter Druck zu setzen, um seine Position zu stärken, sieht er den Aufstieg seiner Assistentin und Geliebten voraus und erkennt, dass es falsch war, seine Ehe seiner Laufbahn zu opfern. Ironischerweise lebt er bislang sehr gut von den Kolonien, für die PP-Layouts hergestellt werden: Miniaturisierungen der irdischen Lebenswelt, in denen sich die Kolonisten aufhalten können. Mittels der halluzinogenen Droge Can-D (= Candy) verschmelzen sie mental mit den Puppen und führen eine Zeit lang ein echtes terranisches Leben. Diese Fluchtmöglichkeit in die Vision einer intakten Erde macht ihr Dasein erträglich. Sie wird zu einer Religion, mitsamt dem dogmatischen Streit, ob die Drogenkonsumenten wirklich zur Erde reisen oder bloß träumen. Das illegale Can-D wird von Buleros Firma produziert und vertrieben und macht erst den Erfolg der Layouts aus. Und Barney entscheidet zuletzt darüber, ob Miniaturmodelle für die Layouts von einem neuen Produkt angefertigt werden; der Präkog schätzt aufgrund seiner Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen, den Erfolg einer Ware ein. 

Parallel zu Barneys Destabilisierung findet eine solche des gesamten solaren Systems statt durch die Ankunft eines Wesens namens Palmer Eldritch, eines Geschäftsmannes, der von seiner Reise in das Proxima-System zurückkehrt, die neue Droge Chew-Z (=Choose it) im Gepäck. Er will, wie es scheint, den von Bulero beherrschten Markt aufmischen. Die UN unterstützt ihn, bestrebt, Buleros Macht einzuschränken.. Dieser, ein mittels deutscher Therapie sowohl mental, als auch hinsichlich der Anpassungsfähigkeit an die widrigen klimatischen Umstände evolvierter Mensch, nimmt den Kampf auf. Der entscheidende Dreh- und Angelpunkt des Romans ist erreicht: Eldritch verabreicht Bulero eine Dosis Chew-Z und Dick schießt den Leser auf eine intergalaktische Achterbahnfahrt durch halluzinogene Welten, ohne jemals das Maß an Schwerkraft einzustellen, das Sicherheit über die Frage: „Traum oder Realität?“ verbürgt. Die Droge erlaubt es, innerhalb von ein paar Augenblicken unendliche Zeiträume zu durchmessen und in Vergangenheit und Zukunft zu reisen. 

Ein ähnliches Rauschmittel ist auch zentrales Thema von Dicks Roman „Now Wait for Last Year“. Anders als dort werden für die Konsumenten von Chew-Z alle Realitätsebenen von Palmer Eldritch kontrolliert. Das gleicht wiederum Dicks Entwurf in dem wie „Stigmata“ paradoxerweise offenen und ausweglosen Labyrinth „Ubik“. In diesem Roman gerät die Welt unter den Einfluss eines verstorbenen Magnaten, dessen Bewusstsein nach seinem Tod mittels einer verbreiteten Technologie aufrecht erhalten wird, die das langsame Abschiednehmen von den Toten mittels telepathischen Kontaktes ermöglicht. Schließlich könnte Ubik darauf hinauslaufen, dass alle Realität nur der Traum von Glen Runciters postmortalem Bewußtsein geworden ist. Die Frage „Traum oder Realität“ finden wir etwa schon bei Pascal, der sich fragt, ob ein Handwerker, der regelmäßig träumt, er sei ein König, nicht auch ein König sein könnte, der regelmäßig träumt, er sei ein Handwerker. Descartes hat das radikaler gedacht: Sein ontologischer Zweifel malt sich aus, die Welt sei das Werk eines bösen Geistes, der mich in allem täuschen will. Die einzige Gewißheit in einer solchen Welt ist, dass ich bin: denn solange ich getäuscht werde, muss ich sein. Die moderne Version reduziert dieses Sein drastisch: die von mir erfahrene Welt könnte Ergebnis der Stimulierung (m)eines Gehirns in einer Nährlösung durch einen Mediziner sein. 

Dick lässt Eldritch zu Mayerson während dessen Aufenthaltes in den von ersterem beherrschten Realitäts- oder Traumebenen sagen, es habe mit den Verwandlungswelten von Chew-Z nichts mehr auf sich als mit den durch elektronische Impulse hervorgerufenen Reaktionen einer Laborratte. Wenn die Wirkung von Chew-Z abklingt, nähert sich der Konsument allmählich der „Realität“, die immer noch Spuren der „Verwandlungswelten“ trägt. Nachdem Dick diesen Vorgang anhand Buleros Kampf, der von Eldritch beherrschten Welt zu entkommen, detailliert geschildert hat, widmet er sich in mehr „realistischer“ Weise der Strategie, die Bulero ergreift. Eng damit verbunden ist das weitere Schicksal Mayersons, der sich, sein Scheitern erkennend, freiwillig zum Dienst auf einer Marskolonie meldet, von Bulero überredet, Chew-Z zusammen mit einer epilepsoiden Substanz zu sich zu nehmen. Der „Nachweis“ der gesundheitsschädigenden Wirkung von Chew-Z aufgrund der Epilepsie Barneys soll das Verbot der Substanz erzwingen. Die Reise des Präkogs in die Eldritch-Welt bringt die Einsicht, dass dieser tot ist, aber ein fremdartiges Wesen mittels Chew-Z von ihm Besitz ergriffen hat und nun von der gesamten Menschheit Besitz ergreifen will. Zeichen dieser Besitzergreifung ist, dass nicht nur in den Visionswelten, sondern auch in den Bereichen der von Dick entworfenen Welt, die der Leser geneigt ist, für „Realität“ zu halten, die Menschen sich in Palmer Eldritch verwandeln. Sie weisen seine drei Merkmale auf: Eine Armprothese, ein künstliches Stahlgebiss und eine artifizielle Sehvorrichtung. 

Wie manche christiche Visionäre ihre Verbundheit mit dem mystischen Leib Christi durch medizinisch nicht erklärbares Tragen der Wundmale (Stigmata) Christi zeigen, so signalisieren diese Stigmata die Verschmelzung der Menschen mit Eldritch. Der Roman benutzt dieses Motiv wie auch die Ebenen der Beziehungen von Visionen und Realität – Präkognition, Can-D (entspricht Pascals Geschichte) und Chew-Z (Descartes‘ böser Geist) – zur Reflexion einer Vision des Autors. Dick hat Anfang der 60er Jahre ein Wesen am Himmel gesehen, das zumindest zwei der drei Stigmata getragen hat, und Einiges unternommen, um herauszufinden, welcher Art diese Vision gewesen ist. Religiös oder psychopathisch? Gut oder Böse? Der Roman bietet als Visionsurheber zunächst die von Palmer Eldritch verbreitete Droge an, dann diesen, dann das Wesen, das von ihm Besitz ergriffen hat. Schließlich wird die Frage: diskutiert, ist es ein guter oder böser Geist, ein Gott oder ein Dämon oder bloß ein Geschöpf wie wir? Auf einer Ebene handelt der Roman vom Kampf, den Bulero (selbst kein durch und durch „Guter“) gegen eine böse Macht führt. Dick hat in einem Brief nahegelegt, dass Bulero diesen Kampf gewonnen hat, obwohl der Roman selbst das offen lässt..

Da ist aber noch Barney, der schließlich – ein durch sein Anteilhaben an der Entität „Palmer Eldritch“ unreines Wesen – als Marskolonist endet. Seine Visionen sind von dem Versuch bestimmt, die Fehler seines Lebens zu korrigieren, und er lernt in seiner Konfrontation mit „Palmer Eldritch“, dass genau das nicht möglich ist. Schließlich steht er zu den Konsequenzen seines Handelns, eine Art tragischer Anti-Held. Er beharrt darauf, etwas Göttliches erfahren zu haben, auch wenn ihm seine Freundin unter den Marsbewohnern entgegenhält: „Ein Wesen, das mit leeren Händen dasteht, ist nicht Gott“.

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